Ich denke, also bin ich? Neues von unserem Gehirn

April 4th, 2019

Mann mit Sprechblasen

In diesem Artikel erfahren Sie, warum Ihr Gehirn nicht nur zum Denken gut ist. Und Sie lernen, wie Sie sein volles Potenzial nutzen können, um sich wohl und lebendig zu fühlen.

Der Mensch – das logisch denkende Wesen?

Wir Menschen halten uns gerne für vernunftbegabte, intelligente Wesen, die – zumindest meistens – vernünftige Dinge tun. Wir denken:

Ich denke, also bin ich.

Aber ist das wirklich so? Sind es wirklich in erster Linie unsere Gedanken, die uns zu denen machen, die wir sind? Oder *denken* wir das nur? Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der Psychologie kommen zu einem anderen Schluss. Sie deuten darauf hin, dass es eher so heißen müsste:

Ich BIN, also DENKE ich.

Es wird also eher umgekehrt ein Schuh draus. Aber wieso?

Die drei Teile unseres Gehirns

Ich bin Psychologin und keine Neurowissenschaftlerin, aber ich versuche es mal etwas vereinfacht zu erklären: Der Teil unseres Gehirns, der unter anderem für das bewusste und logische Denken zuständig ist, ist die Großhirnrinde (oder auch: der Cortex). Sie ist entwicklungsgeschichtlich betrachtet der jüngste Teil unseres Gehirns. Er hat sich also von allen Teilen des Gehirns als letzter gebildet und ist gewissermaßen eine dünne Schicht über dem restlichen Gehirn.

Eine Stufe darunter befindet sich das limbische System, das für die Entstehung und Verarbeitung von Gefühlen verantwortlich ist. Und als entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil haben wir das Stammhirn. Es verarbeitet die Meldungen aus den Muskeln, Gelenken und Organen und hält die wesentlichen Körperfunktionen am Laufen.

Im Englischen gibt es auch die Bezeichnungen thinking brain für die Großhirnrinde, emotional brain für das limbische System und action brain für das Stammhirn – es gibt also je eine Abteilung für das Denken, eine für das Fühlen und eine für das Tun.

Das Gehirn kann man vereinfacht in drei Bereiche unterteilen: Großhirnrinde, limbisches System und Stammhirn

Diese drei Teile sind jeweils ganz unterschiedlich aufgebaut und strukturiert, haben aber eine gemeinsame Aufgabe: Sie sollen uns am Leben erhalten. Jeder Gehirnteil tut das in seinem Bereich und auf seine Weise: Im Stammhirn geht es zum Beispiel darum, unsere Körpertemperatur trotz äußerer Temperaturschwankungen aufrechtzuerhalten oder unsere Lage im Raum stabil zu halten, damit wir nicht umfallen. Das limbische System erzeugt Freude, wenn wir in einer Situation sind, die uns gut tut, oder Angst, wenn es eine Bedrohung feststellt, so dass wir entweder diese Situation öfter aufsuchen oder sie meiden. Und die Großhirnrinde beobachtet und bewertet Situationen mit ihrem logischen Verstand.

Das dreieinige Gehirn

Am besten läuft es für uns, wenn sich alle drei Gehirnteile in einer Harmonie befinden. Dann spricht man nach dem US-amerikanischen Hirnforscher Paul D. MacLean von der Dreieinigkeit des Gehirns und wir fühlen uns lebendig und voller Energie. Aber wie wir aus eigenem Erleben wissen, ist das nicht immer der Fall. Das limbische System meldet, dass uns die Tafel Schokolade sehr viel Freunde bereitet, während die Großhirnrinde kritisch auf den Hüftspeck schaut und das Stammhirn nach dem Verzehr mit leichter Übelkeit in der Magengegend reagiert. Hier liegt also eher eine Dreiteiligkeit vor und man fühlt sich unausgeglichen – und ist es auch.

Der Nervenbahnen-Highway

Die drei Gehirnteile sind untereinander mit Nervenbahnen verbunden, und natürlich auch die Muskeln, Gelenke und Organe mit dem Gehirn. Es herrscht also ein reger Austausch zwischen Körper und Gehirn, als auch innerhalb des Gehirns. Es gibt Nervenbahnen, die von oben nach unten absteigen, und solche, die von unten nach oben aufsteigen. Man spricht hier von der Top-Down- und der Bottom-Up-Verarbeitung.

Nervenbahnen sorgen für die Kommunikation zwischen Körper und Gehirn und zwischen den verschiedenen Gehirnteilen. (Foto: Pixabay)

Man kann sich das so vorstellen: Die Nervenzellen im Magen stellen fest, dass er leer ist. Sie melden ans Stammhirn: „Magen leer“ und man bekommt Hunger – der Magen grummelt oder man verspürt ein körperliches Schwächegefühl. Das Stammhirn meldet das an das limbische System, das mit Stress reagiert: Man wird unruhig, eventuell auch grummelig. Das limbische System meldet weiter an die Großhirnrinde. Und die produziert den Gedanken: „Ich sollte langsam mal was essen.“ Das wäre eine Bottom-Up-Verarbeitung, also von unten nach oben.

Eine Top-Down-Verarbeitung wäre es, wenn wir beispielsweise den Gedanken hätten: „Ich sollte mal wieder Sport machen“, weil uns das vielleicht von unserem Arzt nahegelegt wurde. Die Großhirnrinde meldet das an das limbische System, das im besten Fall mit Freude reagiert. Es leitet die Information weiter an das Stammhirn, damit es die Muskeln schon mal in Schwung bringt. In der Praxis wird es wohl eher so laufen, dass das limbische System mit Ablehnung reagiert und sich die Beine plötzlich soooo schwer anfühlen. Kennen Sie das?

Ein ganz typisches Beispiel für die Schwierigkeiten in der Top-Down-Verarbeitung ist auch, wenn wir Angst (limbisches System) verspüren, zum Beispiel vor einer wichtigen Prüfung. Wir versuchen uns mit unserem logischen Verstand die Angst auszureden, indem wir zu uns sagen: „Warum hab ich jetzt so eine Angst? Ich hab doch gelernt, was soll schon passieren?“ Und trotzdem schlottern uns die Knie (Stammhirn).

Von oben nach unten oder von unten nach oben?

Wie kommt das? Es ist so, dass es von unten nach oben, also aus unseren Muskeln, Gelenken und Organen über das Stammhirn und das limbische System hin zur Großhirnrinde mehr Nervenbahnen gibt als andersherum. Und zwar deutlich mehr: 90% der Nervenbahnen laufen nach oben und 10% nach unten! Es funktioniert also schon, dass wir etwas denken und das dann Gefühle und Körperempfindungen auslöst. Das merken Sie, wenn Sie sich zum Beispiel mal vorstellen, dass Sie eine saftige Melone essen. Aber der Informationsstrom in die umgekehrte Richtung ist deutlich größer und mächtiger.

Mehr noch, die unteren Teile sind in der Lage, die höheren in ihrer Funktion zu hemmen. Und das ergibt durchaus Sinn, wenn wir uns nochmal erinnern, dass die Aufgabe des Gehirns ist, uns am Leben zu halten. Das Stammhirn hat sich diesbezüglich in seiner Millionen Jahren alten Geschichte schon unendlich viele Male bewährt, deutlich mehr als die jüngere Großhirnrinde. Ein typisches Beispiel ist, wenn Sie gedankenverloren auf die Straße treten und plötzlich rast ein Auto heran. Sie werden dann nicht erst anfangen zu denken: „Hm, wo kommt das denn auf einmal her? Ich werde wohl mal lieber wieder zurück auf den Fußweg springen.“ Sondern, bevor Sie auch nur einen klaren Gedanken fassen können, sind Sie schon wieder auf dem Fußweg. Ihr Stammhirn hat übernommen und derweile ihre Gefühle und ihre Gedanken abgebremst. Faszinierend, oder?

Es liegt also nicht daran, dass wir nicht genug Willen haben, wenn unsere Diät scheitert, oder wir uns nicht trauen, etwas zu tun, vor dem wir Angst haben. Es liegt eher daran, wie unser Gehirn entstanden ist und wie es funktioniert. (Was aber nicht heißt, dass wir nie ein gesundes Gewicht erreichen oder uns überwinden könnten. Aber dazu ein andermal mehr.)

Das verfeinerte Gehirn

Die Großhirnrinde ist letztlich eine Verfeinerung des limbischen Systems, welches wiederum eine Verfeinerung des Stammhirns darstellt. Diese Verfeinerungen ermöglichen es uns, *noch* genauer abgestimmt auf die Schwankungen in unserer Außen- und Innenwelt zu reagieren und dadurch unsere Überlebenschancen *noch* mehr zu verbessern. Durch sie sind wir überhaupt erst in der Lage, miteinander in einem sehr komplexen Sprach- und Symbolsystem zu kommunizieren und zu kooperieren (auch wenn wir das nicht immer nutzen). Dadurch können wir wiederum unsere Überlebenschancen erhöhen.

Das heißt also: Unsere Gedanken sind also deutlich öfter eine Folge unserer Gefühle, die eine Folge unserer Körpervorgänge sind, als dass wir unsere Gefühle und Körpervorgänge mit unseren Gedanken steuern könnten. Wir fühlen uns also meistens nicht gut oder schlecht, weil wir positive oder negative Gedanken denken, sondern wir denken positiv oder negativ, weil wir uns emotional und körperlich gut oder schlecht fühlen.

Der Körper und die Gefühle – Verbündete des Verstands

Was bedeutet das jetzt für uns? Heißt das, dass wir Opfer unseres Körpers sind? Dass wir seiner Willkür hoffnungslos ausgeliefert sind, wie ein kleines Boot in einem tosenden Meer? Nein, keine Sorge. Erinnern wir uns nochmal an das Bild des dreieinigen Gehirns und dass alle Teile des Gehirns der selben Mission folgen: Dass wir leben – körperlich, seelisch und geistig. Der Körper und die Gefühle sind also keine unbändigen Naturgewalten, die uns bedrohen. Sondern sie sind ebenfalls lebendige Systeme, die sich in Jahrmillionen bewährt haben, wenn es darum geht, sich in der Welt zurechtzufinden. Noch viel mehr als unser logischer Verstand. Wie gesagt, am besten fühlen wir uns, wenn alle drei sich einig sind.

Es geht daher lediglich darum, nicht zu versuchen, alles mit unserem Verstand kontrollieren und in eine Richtung beeinflussen zu wollen, von der wir lediglich *denken*, dass sie gut für uns ist. Sondern es geht auch darum, uns (wieder) für unsere Gefühlsebene und die unseres Körpers zu öffnen und diesen (wieder) mehr vertrauen zu lernen. Dadurch können wir uns eine mächtige Kraftquelle für unser körperliches, seelisches *und* geistiges Wohlbefinden erschließen.

Mit achtsamer Wahrnehmung zu mehr Balance im Gehirn – und im Leben

Aber wie macht man das jetzt ganz konkret? Wie kommt man mit seinem Körper, seinen Gefühlen und seinen Gedanken in Einklang – oder besser gesagt in einen Dreiklang?

Eine gute Methode ist die achtsame Wahrnehmung. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und nehmen Sie wahr, was alles in Ihnen da ist. Versuchen Sie einfach zu beobachten, was Sie gerade wahrnehmen, ohne es zu bewerten:

  • Was für Gedanken oder Bilder sind gerade da?
  • Nehmen Sie Gefühle wahr?
  • Wenn ja, wo genau spüren Sie die in Ihrem Körper? (Wenn nein, ist das auch in Ordnung.) Und was spüren Sie? Es kann ein Ziehen in der Brust sein oder angespannte Muskeln im Körper. Vielleicht spüren Sie auch Wärme oder Kälte in bestimmten Bereichen des Körpers. Das ist alles in Ordnungen. Nehmen Sie einfach wahr, was da ist.
  • Und dann schauen Sie nach einer Weile, ob es einen Impuls in ihrem Körper gibt, etwas zu verändern. Was möchte Ihr Körper jetzt gerne machen? Vielleicht möchte er seine Haltung verändern, sich etwas an- oder ausziehen oder sich strecken? Oder vielleicht möchte er sich auch bewegen? Nehmen Sie einfach wieder nur wahr, was da ist.
  • Und dann geben Sie dem Impuls, so weit es gerade möglich ist, nach. Wenn es gerade nicht möglich ist, machen Sie es, sobald Sie können. Wenn Sie keinen Impuls spüren, ist das auch in Ordnung. Dann beenden Sie die Übung einfach langsam.

Dieses sich (wieder) auf seinen Körper einstimmen und sich mit ihm verbinden und verbünden kann Zeit brauchen. Seien Sie also bitte geduldig mit sich. Aber es kann sich lohnen, die Zeit und Geduld aufzubringen. Sie müssen dafür auch nicht stundenlang meditieren. Für den Anfang sind fünf bis zehn Minuten mehr als genug, denn diese Übung ist erst einmal alles andere als leicht, und Ihr Verstand wird Ihnen fleißig dazwischengrätschen. Das ist völlig natürlich. Nehmen Sie ihn dann einfach wahr und kehren Sie wieder zu Ihrer Beobachtung des Körpers zurück. Es reicht auch, wenn Sie immer mal kurz im Alltag innehalten, vielleicht die Augen schließen, ein paar Mal durchatmen und dann beobachten, was gerade in Ihrem Körper da ist. Gönnen Sie Ihrem Verstand eine Erholungspause.

Kurz im Alltag innehalten und sich auf seinen Körper einstimmen, kann zu mehr Ruhe und Ausgeglichenheit führen. (Foto: Pixabay)

Achtung: Sollte Ihnen diese Übung sehr schwerfallen oder unangenehme Gedanken, Bilder oder Gefühle hervorrufen, dann sehen Sie bitte erst einmal davon ab. Es kann durchaus sein, dass schwierige Erlebnisse aus Ihrer Vergangenheit in Ihrem Körper gewissermaßen festsitzen und diese durch die bewusste Wahrnehmung reaktiviert werden. Suchen Sie sich in diesem Fall vielleicht am besten jemanden mit einem professionellen Hintergrund, zum Beispiel einen Psychologen oder Psychotherapeuten, oder nehmen Sie Kontakt zu einer Beratungsstelle auf, um Ihre Erfahrungen zu besprechen. Sie können sich auch gerne an mich wenden und wir schauen gemeinsam, welcher Weg für Sie an dieser Stelle der richtige ist.

Schreiben Sie mir gerne in die Kommentare:

  • … welche Erfahrungen Sie damit gemacht haben, wenn Sie Ihre Gefühle und Körperempfindungen mit ihrem Verstand kontrollieren wollten. Hat das funktioniert?
  • … und wie es Ihnen damit geht, dass Ihre Gedanken und Gefühle eher das Produkt Ihrer Körperempfindungen sind als umgekehrt?

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